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26.06.2024

Arbeitnehmerüberlassung Abgrenzung zur Tätigkeit im Rahmen eines Werk- oder Dienstvertrags Wertende Gesamtbetrachtung

Arbeitnehmerüberlassung
Abgrenzung zur Tätigkeit im Rahmen eines Werk- oder Dienstvertrags
Wertende Gesamtbetrachtung

BAG, Urt. v. 05.07.2022 – 9 AZR 323/21 – (Hessisches LAG), EzA § 1 AÜG Nr. 26

Vorab die nichtamtlichen Orientierungssätze
1. Eine Überlassung zur Arbeitsleistung im Sinne des § 1 Abs. 1 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) liegt vor, wenn einem Entleiher Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt werden, die in dessen Betrieb eingegliedert sind und nach dessen Weisungen beschäftigt werden. Davon zu unterscheiden sind Arbeitnehmer, die nach Weisungen des Unternehmers zur Ausführung von Dienst- oder Werkverträgen als Erfüllungsgehilfe bei Dritten eingesetzt werden.
2. Der Werkbesteller oder Auftraggeber von Dienstleistungen kann dem Werkunternehmer oder Dienstleister bzw. dessen Erfüllungsgehilfen bestimmte Anweisungen zur Ausführung der Dienste bzw. des Werks erteilen. In diesen Fällen ist die arbeitsrechtliche, personenbezogene und verfahrensorientierte Weisungsbefugnis von der projekt- und sachbezogenen ergebnisorientierten Anweisung abzugrenzen. Sprechen einige Kriterien für die Annahme, der Arbeitnehmer sei als Erfüllungsgehilfe im Rahmen eines Dienstleistungsvertrags tätig geworden und andere für das Vorliegen einer Arbeitnehmerüberlassung, hat das Tatsachengericht eine umfassende Abwägung aller in die Entscheidung einzustellenden Gesichtspunkte vorzunehmen und das Ergebnis seiner Gesamtbetrachtung nachvollziehbar zu erläutern.  

Zum Sachverhalt

Die Parteien streiten darüber, ob zwischen ihnen seit dem 01.07.2010 kraft Gesetzes ein Arbeitsverhältnis besteht. Der Kläger schloss mit der Rechtsvorgängerin der B GmbH mit Wirkung zum 01.07.2010 einen Arbeitsvertrag. Sie ist – wie ihre Rechtsvorgängerin – nicht im Besitz einer Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung.

Der Kläger wurde seit dem 01.07.2010 ununterbrochen bis zum 30.04.2018 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Automobilindustrie, in deren Betrieb in R eingesetzt. Dort war er innerhalb eines der Abteilung SPS zugeordneten Teams als Systemingenieur tätig. Den Teams gehören Mitarbeitet der Beklagten und Arbeitnehmer der B GmbH an. Für die B GmbH nahm ein bei ihr angestellter Arbeitnehmer die Funktion eines sog. »Single Point of Contact« gegenüber der Beklagten wahr.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, zwischen den Parteien sei zum 01.07.2010 ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen, weil er der Beklagten unerlaubt zur Arbeitsleistung überlassen worden sei. Er habe nach Arbeitsanweisungen der Beklagten mit den bei ihr angestellten Arbeitnehmern in demselben Team gearbeitet und sei in den Betrieb eingegliedert gewesen.

Aus den Entscheidungsgründen:

1.Eine Überlassung zur Arbeitsleistung im Sinne des § 1 S 1 Abs. 1 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG ) liegt vor, wenn einem Entleiher Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt werden, die in dessen Betrieb eingegliedert sind und ihre Arbeit nach Weisungen des Entleihers und in dessen Interesse ausführen..

Arbeitnehmerüberlassung i.S.des AÜG ist durch eine spezifische Ausgestaltung der Vertragsbeziehungen zwischen Verleiher und Entleiher einerseits (dem Arbeitnehmerüberlassungsvertrag) und zwischen Verleiher und Arbeitnehmer andererseits (dem Leiharbeitsvertrag) sowie durch das Fehlen einer arbeitsvertraglichen Beziehung zwischen Arbeitnehmer und Entleiher gekennzeichnet. Notwendiger Inhalt eines Arbeitnehmerüberlassungsvertrags ist die Verpflichtung des Verleihers gegenüber dem Entleiher, diesem zur Förderung von dessen Betriebszwecken Arbeitnehmer zur Verfügung zu stellen. Die Vertragspflicht des Verleihers gegenüber dem Entleiher endet, wenn er den Arbeitnehmer ausgewählt und ihn dem Entleiher zur Verfügung gestellt hat.

2. Von Arbeitnehmerüberlassung zu unterscheiden ist die Tätigkeit eines Arbeitnehmers bei einem Dritten aufgrund eines Werk- oder Dienstvertrags. In diesen Fällen wird der Unternehmer für einen anderen tätig. Er organisiert die zur Erreichung eines wirtschaftlichen Erfolgs notwendigen Handlungen nach eigenen betrieblichen Voraussetzungen und bleibt für die Erfüllung der in dem Vertrag vorgesehenen Dienste oder für die Herstellung des geschuldeten Werks gegenüber dem Drittunternehmen verantwortlich. Die zur Ausführung des Dienst- oder Werkvertags eingesetzten Arbeitnehmer unterliegen den Weisungen des Unternehmers und sind dessen Erfüllungsgehilfen. Solche Dienst- oder Werkverträge werden vom AÜG nicht erfasst.

Der Werkbesteller kann, wie sich aus § 645 Abs. 1 Satz 1 BGB ergibt, dem Werkunternehmer selbst oder dessen Erfüllungsgehilfen Anweisungen für die Ausführung des Werks erteilen. Entsprechendes gilt für Dienstverträge.

Die arbeitsrechtliche Weisungsbefugnis ist von der projektbezogenen werkvertraglichen Anweisung im Sinne des § 645 Abs. 1 Satz 1 BGB zu unterscheiden. Die werkvertragliche Anweisung ist sachbezogen und ergebnisorientiert. Sie ist gegenständlich auf die zu erbringende Werkleistung begrenzt.

Das arbeitsrechtliche Weisungsrecht ist demgegenüber personenbezogen, ablauf- und verfahrensorientiert. Es beinhaltet Anleitungen zur Vorgehensweise und weiterhin die Motivation des Mitarbeiters, die nicht Inhalt des werkvertraglichen Anweisungsrechts sind.

3. Der Inhalt der Rechtsbeziehung zwischen dem Vertragsarbeitgeber und dem Dritten ist sowohl auf Grundlage der ausdrücklichen Vereinbarungen der Vertragsparteien als auch unter Berücksichtigung der praktischen Durchführung des Vertrags zu bestimmen.

Widersprechen sich beide, ist die tatsächliche Durchfühmng des Vertrags maßgeblich, weil sich aus der praktischen Handhabung der Vertragsbeziehungen am ehesten Rückschlüsse darauf ziehen lassen, von welchen Rechten und Pflichten die Vertragsparteien ausgegangen sind, was sie also wirklich gewollt haben. Der so errnittelte wirkliche Wille der Vertragsparteien bestimmt den Geschäftsinhalt und damit den Vertragstyp.

Einzelne Vorgänge der Vertragsabwicklung sind zur Feststellung eines vom Vertragswortlaut abweichenden Geschäftsinhalt nur geeignet, wenn es sich dabei nicht um untypische Einzelfälle, sondern um beispielhafte Erscheinungsformen einer durchgehend geübten Vertragspraxis handelt. Dafür ist nicht die Häufigkeit, sondern sind Gewicht und Bedeutung der behaupteten Vertragsabweichung entscheidend.

4. Der Arbeitnehmer hat die Tatsachen darzulegen und zu beweisen, aus denen sich ergeben soll, dass gemäß

§ 10 Abs. 1 Satz 1 AÜG a.F. ein Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher als zustande gekommen gilt.

Die Grundsätze der sekundären Darlegungslast können jedoch eine Abstufung der Darlegungs- und Beweislast verlangen. Kann eine darlegungspflichtige Partei die erforderlichen Tatsachen nicht vortragen, weil sie außerhalb des für ihren Anspruch erheblichen Geschehensablaufs steht, genügt das einfache Bestreiten durch den Gegner nicht, wenn dieser die wesentlichen Umstände kennt und ihm nähere Angaben zuzumuten sind. Hier kann von ihm das substantiierte Bestreiten der behaupteten Tatsache unter Darlegung der für das Gegenteil sprechenden Tatsachen und Umstände verlangt werden. Die Erleichterungen der sekundären Darlegungslast greifen aber nur ein, wenn die darlegungspflichtige Partei alle ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausgeschöpft hat und sie dennoch ihrer primären Darlegungslast nicht nachkommen kann.

5. Sprechen einige Kriterien für die Annahme, der Arbeitnehmer sei als Erfüllungsgehilfe im Rahmen eines Dienstleistungsvertrags tätig geworden und andere für das Vorliegen einer Arbeitnehmerüberlassung, hat das Tatsachengericht eine umfassende Abwägung aller in die Entscheidung einzustellenden Gesichtspunkte vorzunehmen und das Ergebnis seiner Gesamtbetrachtung nachvollziehbar zu erläutern.

6. Auf der Grundlage der Feststellungen des Landesarbeitsgerichts hat das Bundesarbeitsgericht nicht entscheiden können, ob zwischen den Parteien seit dem 01.07.2010 ein Arbeitsverhältnis besteht. Das Landesarbeitsgericht wird im fortgesetzten Berufungsverfahren die für die Entscheidung erforderlichen Tatsachen ergänzend festzustellen, zu gewichten und nachvollziehbar abzuwägen haben.

a) Dabei ist zu berücksichtigen, dass für die Beklagte erst dann Anlass besteht, zum Inhalt ihrer vertraglichen Vereinbarungen mit der B GmbH weiter vorzutragen, wenn der Kläger Indizien dargelegt hat, die die Würdigung rechtfertigen, er sei der Beklagten zur Arbeitsleistung überlassen worden, und er seiner primären Darlegungslast – trotz Ausschöpfung bestehender Erkenntnismöglichkeiten – nicht (weiter) nachkommen kann, weil ihm der Inhalt der vertraglichen Vereinbarungen nicht bekannt ist. Nur dann ist es Sache der Beklagten, den Inhalt der vertraglichen Vereinbarungen konkret darzulegen und die Tatsachen vorzutragen, die gegen eine Arbeitnehmerüberlassung sprechen.

b) Das Landesarbeitsgericht wird zudem zu beachten haben, dass es die in einem Parallelverfahren vorgelegte E-Mail von Herrn Go im Rahmen seiner Gesamtwürdigung nicht als Beleg für die Eingliederung des Klägers in den Betrieb der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgängerin heranziehen darf, ohne dass sie auch in den vorliegenden Rechtsstreit eingeführt worden ist.

BAG vom 5. Juli 2022 -9 AZR 323/21